Kunst und Kultur für Neugierige
divers, barrierearm und aktuell
Bildinfo
© Bild: missingFILMS
schließen

Premiere QUEER EXILE BERLIN

Am 17. April luden der Filmverleih missingFILMS und Filmemacher Jochen Hicks zur Premiere von „Queer Exile Berlin“ ins Moviemento, Deutschlands ältestes Kino. Nach Hicks „Out in Ost-Berlin“ und „Mein wunderbares West-Berlin“ ist dies nun der dritte Teil seiner Berlin-Trilogie und begleitet filmisch seine spannenden Protagonist*innen, die an diesem Abend auch anwesend waren.

Das Publikum im ausverkauften Kinosaal mutete eher schwul als queer an, was der gespannten Laune aber keinen Abbruch tat. Nach kurzer Irritation über unsere Kinositze – wir saßen auf einer Eckbank neben der Leinwand – ließen wir uns neben einem älteren, sehr tuntigen Paar nieder, das teils sehr lustige Diskussionen führte. Am Ende des Films fiel die Frage, was denn eine TERF sei, und dies fasst die Wissensdiskrepanz zwischen den Generationen treffend zusammen.

Nach dem Screening und einem langen Applaus began das Q&A, moderiert von Journalist Toby Ashraf, wobei die Protgonist*innen zu Wort kamen, und es waren fast alle da: 

Gloria Viagra: Drag-Urgestein und zeitlebens Aktivistin in Berlin
The Darvish: Bauchtänzer*in und Aktivist*in
Monika Tychi: polnische LSBTIQ+ Aktivistin bei Lambda aus Szczecin
Jean-Ulrick Désert: in Haiti geborener New Yorker Künstler, seit 2000 in Berlin

 

Toby Ashraf interviewt Gloria Viagra, Alyha Love, The Darvish, Jochen Hick, Monika Tychi und Jean-Ulrick Désert (von links nach rechts)

Die Portugiesin Eunice Franco war leider auf dem amerikanischen Kontinent unterwegs und schickte ihre Frau Alyha Love als Support. Die DJ war zwar sehr schüchtern, im Film aber für sehr witzige One-Liner verantwortlich. Ebenfalls fehlte Protagonist Mischa Badasyan, der inzwischen in der Schweiz residiert.

Auf die Frage, warum sie alle am Dreh teilnahmen, war die Antwort stets die gleiche: Niemand wusste, dass dies eine Kinodokumentation werden würde, was zur allgemeinen Belustigung beitrug. Die Dreharbeiten fanden ab 2020 statt, und neben der Corona-Pandemie hat sich auch sonst viel in der Zeit verändert. Gloria etwa berichtete, sie sei inzwischen an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie sich selbst und ihre Bedürfnisse und Grenzen neu auslote. Neben den Anstrengungen des Geldverdienens als Drag Queen habe auch der unermüdliche Aktivismus an ihr gezehrt, verbunden mit der Hoffnung, dass ihre Arbeit nicht vergessen werde.

Für Darvish sei der Film eine sehr emotionale Zeitreise gewesen. Darvish kam 2016 mit einem Visum zum Studieren nach Berlin und leide unter Survivor's Guilt, dem Schuldgefühl von Überlebenden. Er musste damals nicht den beschwerlichen Weg der Todesroute auf sich nehmen und hatte in Berlin viele Jahre gewisse Privilegien genossen, die er zur Aufklärung nutzt und zum Poster-Boy der „Flüchtlingskrise“ wurde. Aber auch, wenn er nicht den Horror einer lebensgefährlichen Flucht durchmachen musste, hat auch er wie alle Geflüchteten eine subjektive Wahrnehmung und Geschichte. Im Film erfährt man, dass er Asylstatus beantragen musste und wie schwer damit die Arbeits- und Wohnungssuche ist. Dies will er ändern und werde in seinem Aktivismus immer nach Gleichheit streben. Derzeit schreibt er an einem Kinderbuch über einen kleinen syrischen Tänzer, der die Welt verändert. 

Monika hatte auch keine Ahnung über das Ausmaß des Drehs und stellte mit Wohlwollen fest, dass nun wirklich alle wissen, dass sie eine Exhibitionistin ist (es folgte schallendes Lachen und tosender Applaus). Aber durch sie wissen wir, was für eine harte Arbeit sie in Polen leistet als Telefonseelsorgerin für suizidale queere Jugendliche, CSD-Organisatorin und Zielscheibe für Neonazis und erzkonservative Gegendemonstrant*innen. Es scheint, als hätten die letzten acht düsteren Jahre nicht so sehr an ihr gezehrt, aber die aktivistische LSBTIQ+ Szene in Polen weiß derzeit nicht, wohin die politische und gesellschaftliche Reise gehen wird. Der Regierungswechsel war ein großes Aufatmen, aber was tun, wenn die brennende Wut weg ist? Sie wollte nie aus Szczecin fort, weil sie der Stachel im Fleisch der Unterdrücker bleiben will. Zudem weiß sie inzwischen, dass die Wälder zur deutschen Grenze groß sind, falls sie wieder einmal vor der Polizei fliehen muss.

Jean-Ulrick kennt Jochen nur mit der Kamera in der Hand, deswegen war er nur leicht erstaunt, auf der Leinwand zu landen. Er trat auch schon kurz in „Mein wunderschönes West-Berlin“ (2017) auf, und für ihn habe sich seither nicht viel verändert. Er bleibt dabei, dass man auch in Berlin seine Liebe und Kreativität investieren sollte, und sieht die Hop-On-Hop-Off-Mentalität kritisch. Seine Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt: Seine Werke hängen inzwischen in der Neuen Nationalgalerie. Jean-Ulrick sieht sich auch nicht als Aktivist per se, glaubt aber, dass Kunst immer politisch ist. Und er wird weiterhin viele trojanische Pferde für seine Botschaften bauen.

Jochen Hick selbst wollte mit der Zurückhaltung der Info über das Filmprojekt einfach niemanden enttäuschen, wenn die Person nicht im Final Cut dabei sei. Er habe so viele Politiker*innen und Aktivist*innen porträtiert, er könnte nach Eigenauskunft noch drei weitere Dokumentationen produzieren. Dies allerdings wird er nicht tun, jetzt beginne erst einmal eine Auszeit. Das Gondeln zu Filmfestivals sei kräftezehrend, und im Gegensatz zu früher zahle man inzwischen für solche Prestige-Trips eigentlich noch drauf. Auch wenn er Filmförderung aus vielen verschieden Pötten beziehe, sei es einfach zu wenig Budget für soviel Arbeit.

Trotzdem ist es ihm mit „Queer Exile Berlin“ gelungen, ein runden Abschluss seiner Berlin-Trilogie zu finden. Sein Film zeigt nicht nur die Veränderungen Berlins und der Kämpfe der LSBTIQ+ Communitys, sondern auch, was künftig für unseren Kampf wichtig sein wird.

 

Check auch unseren unserem QINO-Podcast mit mit Regisseur Jochen Hick und das Interview mit The Darvish.